Beide Aufsätze stammen aus den Achtzigern, daher denke ich, daß sie vom Stand der Technik und Forschung durchaus vergleichbar sind. Im Ansatz unterscheiden sie sich allerdings, zum einen schon, weil Habels Text ein Artikel in einem Buch zur Lexikologie ist, der Text von Boguraev und Briscoe jedoch ein Einführungstext in einem Buch über Computerlexikographie. Zum anderen unterscheiden sie sich auch wie folgt:
Habel beschäftigt sich mit möglichen Formen von Lexika und stellt dabei verschiedene Möglichkeiten wie semantische Netze, Scripts oder Frames vor, welche meistens typische Werkzeuge der KI sind. Boguraev und Briscoe dagegen behandeln schon vorhandene Lexika, die eher die Form eines traditionellen Wörterbuchs haben, erwähnen aber auch Projekte, die aus MRDs semantische Netzwerke extrahieren können.
Dabei kümmert sich Habel nicht um die Machbarkeit von z. B. einer Ontologie von Frames: wer möchte schon von Hand alle Tätigkeiten des Lebens in einer Frame-Datenbank formulieren? Auch wenn diese Schemata genau formalisiert sind, sind die meisten seiner Ansätze nicht praktikabel. Zudem vermischt er die Semantik oft mit der Syntax - ein Lexikon muß nicht unbedingt alle möglichen Verknüpfungen der Wörter formulieren, die Frage ist außerdem, wie das geschehen soll. Die vorgestellten Skizzen z. B. zu Schanks CDT mögen zwar recht eindrucksvoll sein, aber wie genau soll man solche Skizzen mit einem Computer verarbeiten, und woher bekommt man überhaupt solche Skizzen?
Boguraev und Briscoe sind da pragmatischer, wobei sie auch viel über tatsächliche Projekte berichten. Sie kümmern sich eher um die Probleme, wie man die Daten aus dem MRD verarbeiten kann und in welcher Form das geschehen sollte. Es ist keine dumme Idee, sich die Arbeit zu ersparen, ein maschinenlesbares Lexikon von Hand zu erstellen und auf schon vorhandenes zurückzugreifen, auch wenn sich dabei Probleme stellen wie die Verläßlichkeit des Lexikons. Heute erscheinen einem die erwähnten Lexika winzig klein, und es gibt auch schon Projekte, sich automatisch Korpora zu erstellen - damals war man noch nicht so weit. Das größte Problem ist sicherlich, wie man mit den Definitionen der MRDs umgehen soll, und der Zirkel, der bei sprachverarbeitenden Systemen dabei entstehen kann.
Beide Texte erwähnen semantische Netzwerke - Habel als wichtiges Element der Wissensrepräsentation, Boguraev und Briscoe im Zusammenhang mit maschinell aus MRDs erstellten Taxonomien. Dies scheint also zum einen eine KI-technisch begründete Technik zu sein, zum anderen auch u. U. computergestützt erstell- und benutzbar - wie man heute u. a. an Wordnet 1 sieht, das zwar nicht maschinell erstellt wurde, aber häufig in Projekten, die eine semantische Datenbank brauchen, verwendet wird. Ich frage mich jedoch, wie man denn vorgehen würde, wenn man aus einem MRD ein semantisches Netzwerk erstelle wollte - die Hierarchie in Wörterbüchern ist nach meiner Erfahrung wenn vorhanden, dann eher vage, und zum Teil auch zyklisch - weshalb ein solches Vorhaben bestimmt nicht einfach ist.
Heute gibt es schon viele Wörterbücher in maschinenlesbarer Form, ob diese jedoch immer auch als Lexika im computerlinguistischen Sinne verwendbar sind, ob aus Aufbereitungs- oder Lizenzgründen, ist die Frage. Aber auch die Korrektheit der MRDs dürfte sich gebessert haben, zum einen mit der Computerisierung der Verlage und auch durch technisch mögliche Korrekturüberprüfungen. Die Vision von einem einzigen Lexikon, aus dem verschiedene Projekte die für sie wichtigen Daten extrahieren, die Boguraev und Briscoe ansprechen, ist mit modernen Mitteln erreichbar geworden, aber wegen der gestiegenen Speicher- und Rechenkapazität vielleicht auch nicht mehr nötig.
Insgesamt sind beide Texte heute ein wenig überholt, aber das Fazit Habels, daß Wissensrepräsentationstechniken für Lexikographen wichtig sind, (zumindest wenn sie MRDs erstellen), und eine mögliche Schlußfolgerung Boguraevs und Briscoes, daß man sich nämlich beim Erstellen von computerlinguitischen Lexika auf MRDs beziehen kann, gelten heute noch, und mit heutigen Programmiersprachen sind sie noch nicht einmal widersprüchlich.